Der Buddhismus der Nichiren Shôshû

M.O. September 2008
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Es gibt keine Buddha-Lehre ohne entsprechende Ausübung
Martin Bradley

 

Was ist Buddhismus?

Im folgenden geben wir eine kurze Einführung in die buddhistische Schule Nichiren Shôshû, die zuweilen auch als Fudschi-Schule bezeichnet wird. Ihr Haupttempel Taisekiji liegt an den Ausläufern des Fudschijama in Japan. Wir werden skizzieren, worin die Einzigartigkeit der Nichiren Shôshû gegenüber anderen buddhistischen Richtungen liegt, wobei wir von der allgemeinen Fragestellung ausgehen: Was ist Buddhismus? 

Nicht wenige Menschen hierzulande scheinen eine nur vage oder unzutreffende Vorstellung von der Lehre Buddhas zu haben, obwohl sich schon so große Köpfe wie Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche oder Hermann Hesse mit ihr befaßten. Im westlichen Kulturkreis hat der vergleichsweise hohe Bekanntheitsgrad des Zen und der Religion in Tibet das Bild vom Buddhismus maßgeblich mitgeprägt, wobei natürlich der Dalai Lama, dem man 1989 den Friedensnobelpreis verlieh, eine signifikante Rolle spielt. Der schon in den 1960ern und 70ern aufkommende „New-Age“-Trend mit seinem Interesse an östlichen Lehren und ihren Gurus, der sich zu einem Milliarden-Markt des Esoterischen entwickelt hat, Hollywood mit Streifen wie „Little Buddha“, Schauspieler, die mit dem Dalai Lama sympathisieren, und schließlich die verschiedenen Esoterikangebote aller Art haben sicherlich das ihre dazu beigetragen, daß trivialisierende Vorstellungen von „Reinkarnationstheorien“ mit dem Buddhismus in Verbindung gebracht werden, obwohl einige dieser Ideen auf den vorbuddhistischen Vorstellungen des Brahmanismus und teils auf bloßem Aberglauben beruhen. Hinzu kommt, daß auch fernöstliches Gedankengut nicht von Kommerzialisierung und Instrumentalisierung verschont bleibt. Der Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Erich Fromm beklagte, als er von 19741976 am Manuskript zu seinem Buch Haben oder Sein und dem Ergänzungsband Vom Haben zum Sein   Wege und Irrwege der Selbsterfahrung schrieb, daß die meisten Begriffe, die sich auf die innere Befreiung des Menschen beziehen, verdorben waren. Dies ließ ihn von einem großen Schwindel sprechen, der nicht einfach nur auf den Bereich der Aufklärung des Menschen zutrifft, sondern die Aufklärung selbst sei inzwischen Teil eines alle Bereiche der Gesellschaft durchdringenden großen Schwindels geworden. In abgenutzten Begriffen wie „menschliches Wachstum“, „Selbstverwirklichung“, Leben im Hier und Jetzt“ und ähnlichem sah der Gesellschaftskritiker Fromm eine „spirituelle Ware“, die nicht mehr mit der Befreiung von äußerer Herrschaft einhergeht, sondern oft nur noch persönliches Wohlsein um den Preis der Anpassung an eine kranke Gesellschaft zum Ziel hat.

Werfen wir einmal einen kurzen Blick auf Nietzsche, der in seinem berühmten Werk Der Antichrist ausführt:

Der Buddhismus ist hundertmal realistischer als das Christentum er hat die Erbschaft des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im Leibe, er kommt nach einer Hunderte von Jahren dauernden philosophischen Bewegung; der Begriff Gott ist bereits abgetan, als er kommt ... er sagt nicht mehr Kampf gegen die Sünde, sondern, ganz der Wirklichkeit das Recht gebend, Kampf gegen das Leiden. Er hat dies unterscheidet ihn tief vom Christentum die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich er steht, in meiner Sprache geredet, jenseits von Gut und Böse.

Dieser Kampf gegen das Leiden“ impliziert, daß die Lehre Buddhas weniger Weltanschauung denn ein Mittel zum Ausweg aus realer Not und konkreten Schwierigkeiten ist, auch aus hoffnungslos erscheinenden Situationen. Bei den höheren Formen des Buddhismus handelt es sich, wie wir noch sehen werden, keineswegs nur um auf innere Befreiung abzielende Kontemplation, sondern dadurch, daß der Einzelne seine Beschränktheit durch die buddhistische Ausübung zu durchbrechen vermag und in diesem Prozeß sein wahres Potential entfaltet, nimmt er Einfluß auf seine soziale Umgebung, womit sich bereits die Gesamtsituation verändert hat. Es ist gut möglich, daß in diesem Prozeß nicht nur der Kampf mit sich selbst“, von dem es zu Recht heißt, daß er der schwierigste sei, zu gewinnen ist, sondern daß nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung auch äußere Gegenkräfte hervorgerufen werden. Auf jeden Fall ist hierin im Gegensatz zu einem rein sozioökonomischen Ansatz, der nur einseitig auf die Befreiung von äußerer Herrschaft abzielt, die Lösung für die brennenden gesellschaftlichen und sozialen Probleme unserer Zeit zu suchen. Die höheren Lehren Buddhas verfügen über ein solches Potential, unter anderem deshalb, weil sie im Unterschied zu anderen Weltreligionen ihre Anhänger nicht auf eine jenseitige, paradiesische Welt vertrösten, die bei einem gottgefälligen Leben als Lohn der Mühsal hier auf Erden winkt. Vielmehr läßt die tiefe Einsicht in das Wesen des Menschen und damit des Lebens im allgemeinen den Buddhismus die Lösung aller Probleme im Hier und Jetzt erblicken. Man mag einwenden, daß es auch in der Welt des Buddhismus Richtungen gibt, die sich durch eine gewisse Weltflucht auszeichnen. In Japan beispielsweise finden wir die von Hônen begründete Schule vom Reinen Land (Jôdo Shû), deren Ausübung in der Anrufung des Namens von Buddha Amida („grenzenloses Licht“) besteht, wovon sich die Anhänger die Wiedergeburt in einem unbefleckten Terrain versprechen – einem Reich vollkommener Glückseligkeit in der westlichen Region des Universums. Manche sehen in dieser oder ähnlichen Lehren Parallelen zur christlichen Heimkehr Jesu zum Vater (der Himmelfahrt) oder auch zum Islam mit dessen Konzeption vom Himmel. Wie dem auch sei, man darf hierbei nicht außer Acht lassen, daß Buddha Amida (sanskr. Amitāyus oder Amitābha) in den Lehren des historischen Buddhas eine provisorische Rolle zukommt, durch die er seine Schüler auf seine endgültige, vollkommene Lehre vorbereitete. Den noch folgenden Ausführungen vorgreifend, sei hier schon gesagt, daß in der tiefgründigsten buddhistischen Lehre offenbart wird, daß jeder einzelne Augenblick des Lebens die Gesamtheit von Raum und Zeit in sich schließt. Vergleicht man die Lehre Buddhas mit den großen abrahamitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, so zeichnet sie sich vor allem dadurch aus, daß es in ihr keinen Schöpfer und keinen Schöpfungsakt gibt. Der Buddha ist ein Mensch, der durch eigene Anstrengung zur höchsten Wahrheit erwacht ist und danach strebt, andere Menschen an seiner Erleuchtung teilhaben zu lassen.

 

Was ist Religion?

Beileibe nicht neu ist die Erkenntnis, daß, um die Welt zu verändern, der Mensch sich selbst ändern muß. Die Frage ist jedoch, wie dies geschehen kann, zumal es hier natürlich nicht einfach nur darum geht, sich eine andere Einstellung zueigen zu machen, sondern um eine tiefgreifende Änderung des Individuums. Ein willentliches Kontrollieren unseres Tuns auf der Ebene des Bewußtseins ist meist zum Scheitern verurteilt, wie die Erfahrung lehrt. Wenn unser Handeln und Denken nicht so vehement durch die mächtigen Triebkräfte und Impulse aus den tiefsten Ebenen unseres Unterbewußtseins getrieben und nicht so wenig von bewußter Vernunft bestimmt wäre, gäbe es nicht all die individuellen Tragödien und gesellschaftlichen Probleme und Katastrophen, deren furchtbarste der Krieg ist.

Der ehrwürdige Yosai Yamada, der u.a. die Leitung der Nichiren-Shôshû-Tempel in Chicago und Madrid innehatte, sagt über Religion:

Jedoch ist Religion nicht bloßer persönlicher Glaube. Ihr Gegenstand wurde als das Unbekannte bestimmt die ursprüngliche Quelle oder Wahrheit des Lebens , was außerhalb der Reichweite von Logik und Sinneswahrnehmung liegt. Die meisten Religionslehren schreiben eine Art der Verehrung oder Ausübung vor, durch die die Gläubigen sich mit jener Quelle zu verbinden suchen. Auch legen sie ein greifbares oder immaterielles Objekt der Verehrung fest, auf das hin solche Anstrengungen ausgerichtet sind.[i]

Er zitiert anschließend den 26. Patriarchen der Nichiren Shôshû Nichikan Shônin:

Im allgemeinen muß Religion sowohl ein Objekt der Verehrung als auch ein System von Lehrsätzen haben. Religion ohne Lehre ist keine Religion, sondern bloßer Glaube. Die Bezugnahme auf eine Lehre ohne Objekt der Verehrung ist Philosophie und etwas anderes als Religion.

Hier werden zwei Faktoren als Wesensmerkmal von Religion ausgemacht: Ein Objekt der Verehrung und ein System von Lehrsätzen. Beim Mainstream des heutigen Christentums wären dies Gott und die [neu-testamentliche] Bibel bzw. die Bergpredigt Jesu; im Islam haben wir Allah und den Koran. Der Einfluß der Religion auf das Handeln des Menschen ist nicht zu unterschätzen. Das, was wir glauben und dem wir uns (als religiösem Objekt) zur Sinnfindung und Orientierung in unserm Leben widmen, ist von entscheidendem Einfluß. Wie der ehrwürdige Yamada in einer anderen Vorlesung bemerkt, handeln und denken wir gemäß unseren Idealen, die auf unserem Glauben beruhen, und schaffen auf diese Weise die Welt, wie sie ist. Interessant in diesem Zusammenhang ist das Postulat von Karl Marx, der im Anschluß an Ludwig Feuerbach in der Kritik der Religion die Voraussetzung aller Kritik sah und die Aufhebung der Religion forderte. Dies hat mit seiner Einschätzung von Religion als gesellschaftsimmanentem Moment zu tun, wie es auch in dem Gedanken seinen Ausdruck findet, daß nicht Gott den Menschen geschaffen hat, sondern umgekehrt. Bekanntermaßen kommt der Begriff „Religion“ aus dem Lateinischen. „Religio“ leitet sich von „religare“ („zurückbinden“) bzw. „religere“ („wiedererwägen“) her. Damit war zunächst die ursprüngliche Bindung des Menschen an Gott gemeint. Im Laufe der Zeit hat man diese Definition erweitert, da man das Problem hatte, den Hinduismus nur zum Teil, und den „gottlosen“ Buddhismus schon gar nicht unter diesem Begriff von Religion fassen zu können. Nichtsdestotrotz hielt das Wort erst in der Neuzeit Einzug in die europäischen Sprachen, und die Grenzen dieses genuin europäischen Verständnisses von Religion als ein von der übrigen Gesellschaft trennbarer Bereich zeigt sich heute beispielhaft in der Auseinandersetzung mit dem Islam, mit dessen auf dem Koran basierender Lehre eine grundlegende Trennung von Religion und Politik nur schwer vereinbar scheint.

Manche sträuben sich auch heute, den Buddhismus mit seinem Fokus auf dem Heil des einzelnen Individuums in die landläufige Schublade von „Religion“ einzuordnen. Zuweilen heißt es, daß der Buddhismus die Religion transzendiere oder gar eine Art „Anti-Religion“ sei mit seiner Zielsetzung, die Menschen aus ihrem Leid zu befreien, indem er ihnen den Weg aus ihren unheilvollen Verstrickungen und Verhaftungen weist. Für diese These spreche neben der aufrichtigen Verpflichtung des Buddhismus der Wahrheit gegenüber auch seine mit dem gesundem Menschenverstand wohlverträgliche, anti-methaphysische Grundhaltung.

Einige sagen, sie seien vollkommen areligiös (und nicht bloß atheistisch), doch jeder Mensch glaubt [an] irgend etwas. Selbst die, die etwa die äußere Welt oder „die anderen“ als eine durch die Sinnesorgane synchronisierte Halluzination ansehen, können letztlich nicht umhin, wenigstens sich selbst als real anzunehmen. Der französische Rationalist Descartes beispielsweise formulierte: „Ich denke, also bin ich“. Erich Fromm fragt im eingangs erwähnten Buch Haben oder Sein: Muß der Säugling nicht an die Mutterbrust glauben? Müssen wir nicht alle an unsere Mitmenschen glauben, an unsere Liebsten und an uns selbst? Ohne Glaube wird der Mensch in der Tat unfruchtbar, hoffnungslos und bis ins Innerste seines Wesens verängstigt.

 

Historischer Ursprung des Buddhismus

Die Nichiren Shôshû lehrt in Übereinstimmung mit ihrem Begründer Nichiren Daishônin (1222–1282) eine Form buddhistischer Ausübung, die jeder Mensch praktizieren kann. Im Titel „Daishônin“ drückt sich aus, daß der Mönch Nichiren als der eine große Weise oder „Heilige“ (shônin) betrachtet wird. Dies ist im Sinne der wortgeschichtlichen Urbedeutung von „heilig“ zu verstehen, d.h. im Sinne von „heil“ oder „ganz“ (im Englischen kommt „holy“ von „whole“). „Dai“ bedeutet „universal“ oder „groß“. Während man den Titel „Buddha“ mit „Erleuchter“ übersetzen könnte, bedeutet „Daishônin“ eine Person, die im universellen Sinne „heilig“ ist.

Wer der von Nichiren Daishônin gelehrten Ausübung unbeirrbar und in vollem Umfang sein Leben lang nachkommt, erlangt tiefe Einsicht und unerschütterliches Glück und wird in diesem Prozeß selbst zum Buddha. Um Licht auf die Frage zu werfen, was ein „Buddha zu werden“ bedeutet, gehen wir zunächst fast 3000 Jahre zurück in die Zeit jenes Menschen, der als Begründer des Buddhismus gilt und an den Ausläufern des Himalaya in einem kleinen Königreich nahe der indischen Grenze, südlich von Mittel-Nepal das Licht der Welt erblickte. 

Neuzeitliche Historiker neigen dazu, die Lebenszeit des historischen Buddha Shakyamuni, der auch als Siddharta Gautama bekannt ist, auf das 5. oder 6. vorchristliche Jahrhundert zu datieren, während er asiatischer Tradition zufolge weit früher, etwa um 1000 v.Chr. lebte. Jedenfalls war die Gesellschaft seiner Zeit sozial und religiös durch den Brahmanismus geprägt. Als jüngster Teil der auf die Zeit von 1300 v.Chr. datierten Veden, die religiösen Schriften des Brahmanentums, gelten die indischen Upanischaden, in denen erstmalig die Lehren von Seelenwanderung, Wiedergeburt und Karma auftauchen. Im religiösen und sozialen System des alten Indien bildete das brahmanische Priestertum die oberste Kaste. Es herrschte die Vorstellung, daß sich in der karmischen Seele eines Menschen die guten und schlechten im Laufe seines Lebens gesetzten Ursachen ansammeln und darüber entscheiden, in welcher Kaste dieser Mensch als Brahmane, als Krieger, als Händler bzw. Bauer oder als Verstoßener bzw. Knecht wiedergeboren wird. Auch glaubte man, daß es das letztendliche Ziel aller Menschen sei, eins mit Brahman zu werden, dem universalen Weltgeist als höchstem Prinzip dem Absoluten und Urgrund alles Seienden. Dieses Ziel suchte man durch fortlaufende Wiedergeburt in einer immer höheren Kaste zu erreichen, an deren Ende schließlich der Austritt aus diesem Zyklus steht. Die entsprechenden religiösen Praktiken umfassen das gewissenhafte Erfüllen der Verpflichtungen, die einem als Mitglied der eigenen Kaste obliegen. Im einzelnen beinhalten sie, die Brahmanen zu ehren und zu unterstützen, rituelles Baden, das Darbringen von Tieropfern und sich durch Selbstverleugnung von der Welt des Fleisches und der Begierde abzutrennen. Daß in indischen Slums grundlegende soziale Umstürze ausbleiben und bestenfalls einmal rebelliert wird, führen Soziologen darauf zurück, daß die dort lebenden Hindu noch heute ihre Lebenssituation als ein hinzunehmendes persönliches Verschulden aus früheren Lebensexistenzen begreifen. Auch die menschenverachtende Einstellung gegenüber den Leprakranken als Kaste der „Unberührbaren“ scheint in dieser kulturellen Tradition zu wurzeln.

Bereits hier werden essentielle Unterschiede zwischen dem Brahmanismus und der Lehre Buddhas deutlich, in der es keines Brahman als „Motor“ des Universums bedarf. In der Laienorganisation Soka Gakkai, die 1991 von der Nichiren Shôshû ausgeschlossen wurde, haben die Leiter propagiert, daß der Zweck buddhistischer Ausübung darin liege, das eigene Leben mit dem Rhythmus oder „Gesetz des Universumsin Einklang zu bringen, oder anders ausgedückt, Mikro- und Makrokosmoszu verschmelzen.[ii] Eine solche gut klingende, aber nichtbuddhistische Konzeption der Harmonisierung des Individuums mit dem universalen Leben trifft in unserer westlichen Welt auf offene Ohren. Doch ist in der Lehre Buddhas die Vorstellung eines objektiv und unabhängig vom menschlichen Leben existierenden „Gesetzes“ nicht zu finden und wurde bereits als ein speziell für den westlichen Markt konzipiertes „besseres Christentum“ kritisiert, in welchem man Gott durch das „Gesetz des Universums“ ersetzt hat. Daß wir uns unsere Umgebung und das Universum im allgemeinen als ein objektiv und unabhängig vom menschlichen Dasein existierendes, separates Terrain vorstellen, mit dem wir interagieren, ist durch unseren nichterleuchteten Zustand bedingt, insbesondere durch unsere Illusion, „wer wir sind“. Aus Sicht der höchsten buddhistischen Lehre manifestiert sich die Realität [des Lebens] in Raum und Zeit, doch gibt es letztendlich nichts, das außerhalb des menschlichen Geistes existiert alles, was ist, und der Geist sind essentiell eins. Darauf gehen wir später im Zusammenhang mit der Lehre Nichiren Daishônins näher ein. Eine solche Vorstellung übersteigt natürlich unseren gewöhnlichen Verstand mit seiner Logik. Neben diesem „Gesetz des Universums“ besteht eine weitere, quasi-evangelikale Trivialisierung der Lehre Buddhas durch die vorgenannte Organisation darin, sie aus anbiederndem Kalkül als eine Art Anleitung zu sozialreformerischem Handeln oder zum „Kampf für Frieden und Menschenrechte“ darzustellen. Natürlich steht soziales Engagement keineswegs im Widerspruch zum Buddhismus. Im Gegenteil drückt sich besonders in den höheren Lehren Buddhas die Erkenntnis aus, daß das eigene Leid nicht vom Leid der anderen getrennt ist. Doch was auch immer die Botschaft des Buddhas sei, so liegt sie gewiß nicht auf der Ebene einer sozialen „Menschenrechtsbewegung“ oder ähnlichem. Es geht vielmehr um den einzelnen Menschen und wie wir uns als einzelne aus unserem schizophrenen Zustand und dem damit verbundenen Leid befreien können. Es ist das Verdienst Martin Bradleys, aufgezeigt zu haben, wo solch fragwürdige Termini wie „Mystisches Gesetz“ [des Universums] und andere ihren linguistischen Ursprung haben: In der auf christliche Missionare zurückgehenden Lexikographie, wie sie in den von Kirchenorganisationen herausgegeben Wörterbüchern zu den „heidnischen Religionen“ des Orients zu finden ist, auf die sich die am chinesischen und japanischen Buddhismus interessierten Gelehrten lange Zeit haben stützen müssen.

Die Konzeption des Einsseins von Universum und individuellem Selbst“ geht auf das brahmanische Rig-Veda zurück, demzufolge Brahman (der Äther um uns) und Atman (etymologisch: „Atem“; der Äther in uns) essentiell eins sind. „Brahman ist Dein eigener Atman bildet den Kern des brahmanisch-hinduistischen Glaubens, wobei übrigens der heilige Om“-Laut diese Allheit des Brahman identifiziert. Um den rein spirituellen Atman transzendieren und im Brahman aufgehen lassen zu können, muß der brahmanische Praktizierende sich harten Kasteiungen unterziehen, damit er sich von seinem als unrein angesehenen Körper emanzipieren kann. Der Buddha hingegen, ganz gegen jede metaphysische Spekulation eingestellt, bestritt nachdrücklich die Existenz einer menschlichen Seele (den Atman) und setzte dieser Narrenlehre der Seelenwanderung seine eigene Konzeption des Nicht-Selbst (Anatman) entgegen. Folglich gibt es auch keinen Brahman, und wir können davon ausgehen, daß der Buddha die Existenz des christlichen Gottes gleichsam bestritten hätte. 

Wenn uns in Übersetzungen buddhistischer Schriften der Begriff „Seele“ begegnet, sollten wir bedenken, daß hier nicht ein ewiges, unveränderliches „Ich“ gemeint ist, sondern ein Konglomerat von Erfahrungen und Empfindungen, das zwar im Prozeß der Individuation im Anschluß an unsere Geburt das subjektive Gefühl eines „Ich“ in uns entstehen läßt, doch handelt es sich aus buddhistischer Sicht keineswegs um eine autonome, den Körper transzendierende Entität oder ein spirituelles etwas, welches von einem Körper auf einen anderen übergeht oder nach dem Tode im Himmel, der Hölle oder einem sonstigen „Ort“ ankommt. Anders ausgedrückt, leugnet der Buddha keineswegs unser Ich-Bewußtsein, wohl aber die Existenz eines dauerhaften Selbst. In der Lehre Buddhas vollzieht sich die sogenannte Wiedergeburt als „bedingtes Entstehen“ ohne eine den Tod überdauernde Seele. Nichts ist von unbegrenzter Dauer; alles entsteht und vergeht in Abhängigkeit von anderen Daseinsfaktoren, ohne die etwas Existierendes auch gar nicht denkbar ist, denn nichts existiert für sich allein, sondern ist durch andere Gegebenheiten bedingt. Das „Ich“ bildet hiervon keine Ausnahme. Weder sind wir derselbe, der wir als Kind einmal waren, noch sind wir heute ein völlig anderer. Wenn wir sterben, zerfällt mit unserem Körper auch unsere geistige Individualität. All diese Komponenten unseres bisherigen Lebens verschmelzen mit der großen „Suppe“ universalen Daseins, aus dem wieder ein neues Lebewesen entsteht, das weder identisch mit seiner Vorexistenz noch von dieser gänzlich unabhängig ist. Beide sind durch „karmische Verursachung“ miteinander verbunden. Den Einwand seiner irritierten Zeitgenossen, daß es keine „Wiedergeburt“ geben könne, wenn kein Subjekt existiert, welches eine Abfolge von Wiedergeburten durchläuft, ließ der Buddha nicht gelten. Er dachte in „Werdensvorgängen“, die kein substantielles Sein zur Voraussetzung haben. Die sogenannte Wiedergeburt ähnelt damit jenem Vorgang im Billardspiel, wenn die eine Kugel einer anderen den Bewegungsanstoß und eine bestimmte Laufrichtung gibt, ohne daß dabei etwas Substantielles zwischen den Kugeln übergeht. Hierfür wird auch die Metapher des Entflammens einer Kerze durch die Flamme einer anderen gebraucht, wobei auch nichts Substantielles zwischen den Kerzen hinüberwandert. Was den Tod überdauert, ist allein das Karma. Zum Verständnis wollen wir kurz erläuten, wofür der Begriff des Karma Begriff steht.  

 

Kleiner Exkurs über Karma

In der Lehre Buddhas wurde der Karmagedanke nicht einfach nur von den Hindu übernommen, sondern erfuhr erst hier seine Vervollkommnung in der Konzeption eines universell und ausnahmslos gültigen karmischen Kausalprinzips, welches die „drei Existenzen“ von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umspannt. Ganz allgemein kann man sagen, daß hierin der Anspruch des Buddhismus begründet liegt, allen anderen Lehren überlegen zu sein. In seinem Brief von Sado schreibt Nichiren Daishônin:

In einem Sutra heißt es, daß das Schwarz der Krähe und das Weiß des Reihers die tiefen Flecken ihres vergangenen Karmas sind. Die Brahmanen und andere Nichtbuddhisten weigerten sich, diese Ursächlichkeit anzuerkennen und behaupteten, daß es sich um das Werk der Natur handele.

Sutras sind die Schriften, die die Lehre Buddhas übertragen. Jedes Sutra beginnt mit den Worten, „So habe ich einst vernommen.“ Das chinesische Ideogramm kyô für das Wort „Sutra“ hat eine ganze Reihe von Bedeutungen wie etwa die eines in Längsrichtung verlaufenden Kettfadens, worin ein Unterton von allzeit gültiger Kanon oder „Klassiker mitschwingt.

Zurück zum Begriff des Karma, bei dem es sich um ein im Westen zuweilen mißverstandenes Konzept handelt: Weder impliziert es unabänderliche Schicksalhaftigkeit, in der es überhaupt keinen freien Willen gibt, noch bedeutet es, daß einen das Leid anderer nichts angehe. Das Sanskritwort karma bzw. karman bedeutete ursprünglich Handlung“, wobei der Buddhismus dreierlei Arten von Handeln ausmacht körperliches, verbales und gedankliches. Dies bedeutet, man erzeugt Karma auf drei Arten: durch Taten, Worte und Gedanken. Alles, was man denkt, spricht und tut, bildet eine Ursache, die unweigerlich früher oder später eine entsprechende sichtbare Wirkung zeitigt. Das Wirken von Karma zu bestreiten, wird in der Lehre Buddhas zu den sogenannten falschen Ansichten gezählt, da sie das Kausalitätsprinzip leugnen. Es zu akzeptieren hingegen bedeutet anzuerkennen, daß man sein Schicksal vollkommen selbst in der Hand hat, aber konsequenterweise dann auch für alles, was einem widerfährt, nichts mehr außerhalb seiner selbst verantwortlich machen kann. Dies mag auf den ersten Blick schwer zu akzeptieren sein, doch wie sonst läßt sich das, worüber man keine Kontrolle hat, erklären? Ist es einfach Schicksal oder unerforschliche Vorsehung, wo, wann und unter welchen Umständen man geboren wird, ob man erbkrank oder behindert ist, ob man bei einen Unfall Schaden davonträgt? Muß man hinnehmen, daß man eben einfach Glück oder Pech im Leben hat? Wenn man so denkt, bleibt angesichts einer gewissen Ohnmacht ob des eigenen Schicksals eigentlich nur, alles hinzunehmen oder aber sich jener höheren Macht vollkommen auszuliefern, von der man glaubt, daß sie alles bestimmt. Unbestritten bleibt, welch prägenden, irreversibel erscheinenden Einfluß die eigene Sozialisation durch Eltern, Schule und Gesellschaft auf die eigene Entwicklung hat. Dennoch hilft das Projizieren der Ursache für die eigene Misere auf äußere Umstände auch nicht weiter. So mancher hadert mit seinem Schicksal; einige werfen gar ihren Eltern vor, sie hätten sie lieber nicht in die Welt setzen sollen; doch konnten die Eltern ihrerseits voraussehen, was aus ihren Kindern einmal wird? Ist es die Absurdität der Welt, mit der wir es hier zu tun haben?

Für den Buddhismus liegt die eigentliche Ursache der persönlichen Lebensumstände und für alles, was einem widerfährt, im Individuum selbst, während den äußeren Faktoren von der eigenen Familie, dem Lebenspartner, dem Beruf usw. bis hin zur Gesellschaft im allgemeinen die Funktion eines Katalysators als „äußerer Ursache“ zukommt, vermittels derer sich die in der „inneren Ursache“ bereits latent ruhende Wirkung manifestiert. Veranschaulicht am Beispiel der Geburt in dieser Welt bildet der Zeugungsakt durch die Eltern die „äußere Ursache“, doch bildhaft und vereinfachend ausgedrückt, hat man sich aus buddhistischer Sicht seine Eltern selbst ausgesucht. Die Reserviertheit, mit der man in der westlichen Welt einem solchen Gedanken begegnet, könnte sich aus der im abendländischen Kulturkreis stark verwurzelten Vorstellung von der kindlichen Unschuld bzw. der Idee, daß alle Menschen gleich geboren sind, erklären. Dies hat damit zu tun, daß das Leben einer Kreatur im allgemeinen als zeitlich begrenzt aufgefaßt wird, zumindest, daß es zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Entstehung gelangt, sei es in einem Schöpfungsakt oder nach atheistischer Auffassung als Vorgang [in] der Natur. In seiner Schrift über Fragen und Antworten zu den verschiedenen Schulen erklärt Nichiren Daishônin:

Wir sind, wie alle Lebewesen, Körper und Geist ohne Anfang und Ende Grillen, Ameisen, Moskitos und Pferdebremsen eingeschlossen. Es ist die verdrehte Sichtweise irriger Religionen, nach der Lebewesen einen Anfang und ein Ende hätten.

Diese Darlegung mag nicht einfach nachzuvollziehen sein, insbesondere was die Nichtendlichkeit nicht nur des Geistes allein, sondern auch des physischen Aspektes unsers Daseins betrifft, worin die buddhistische Auffassung des unabänderlichen Einsseins von Materialität und Geist zum Ausdruck kommt. Die buddhistische Konzeption von Kausalität reicht weit tiefer als die naturwissenschaftliche Vorstellung von Ursache und Wirkung in der „objektiven Welt“, die durch unsere herkömmlichen Raumzeit-Vorstellungen geprägt ist. In der Lehre Buddhas sind auf einer tieferen Ebene Ursache und deren Wirkung gleichzeitig existent, da es keinen Bruch zwischen den „drei Existenzen“ von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt. Das heißt, der gegenwärtige Augenblick ist die Wirkung aller Ursachen der unendlichen Vergangenheit, und gleichzeitig enthält er die unbegrenzte Zukunft. Daraus leiten sich die buddhistische Kategorien von „innerer“ und „äußerer Ursache“ und „latenter“ und „manifester Wirkung“ her.

Das Karma wird geschaffen, indem Gedanken konkrete Worte und Handlungen folgen. Die Wirkung solcher Worte und Taten verliert sich nicht, sondern bleibt im Leben als latente Kraft erhalten, die über das weitere Schicksal bestimmt. So sammelt sich nach und nach sowohl gutes als auch schlechtes Karma im Leben eines Menschen an, das, wenn „die Zeit reif ist“, eine manifeste, d.h. sichtbare Wirkung hervorruft. Karma als potentielle Kraft wird auch als latentes Karma oder karmische Samen bezeichnet eine unsichtbare Kraft mit nichtsdestoweniger sichtbaren Wirkungen. Mit den Worten des indischen buddhistischen Gelehrten Vasubandhu:

Latentes Karma schwindet nicht, und mögen selbst hundert Kalpas verstreichen. Bei Begegnung mit einem geeigneten Anreiz ist das Erscheinen seiner Wirkung gewiß.

Karma läßt sich unter verschieden Aspekten kategorisieren. Neben der groben Unterscheidung von gutem und schlechtem Karma als Folge guter respektive schlechter Ursachen ist vor allem die Einteilung in veränderbares und unveränderbares Karma von Bedeutung. Während man bei unveränderbarem Karma sich des entsprechenden Resultates zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt gewiß sein kann, steht die Art von Wirkung beim veränderbaren Karma noch nicht unumstößlich fest. Im Guten wie im Schlechten rufen folgenschwere Ursachen unveränderbares Karma hervor, während weniger schwerwiegende Ursachen veränderbares Karma erzeugen. Unveränderbares Karma läßt sich weiter dreifach unterteilen in Karma, dessen Wirkungen noch im selben Leben sich manifestieren, Karma, dessen Folgen im nächsten Leben in Erscheinung treten, und schließlich solches Karma, dessen Wirkungen sich erst in einem dritten oder noch späteren Leben entfalten. Allgemein heißt es, daß leichteres Karma seine volle Wirkung noch in diesem Leben, in dem es entstanden ist, entfaltet, worunter die meisten unserer alltäglichen Handlungen fallen. Bei außergewöhnlich schwerwiegenden Vergehen hingegen kann sich Karma fortsetzen und zur Ursache des Leidens eines Menschen nicht nur im nächsten und übernächsten, sondern sogar während weiterer Lebensexistenzen werden. Auch außergewöhnlich gutes Karma wie das durch die buddhistische Ausübung geschaffene setzt sich weit über das derzeitige Leben hinaus fort. Dies gilt als Erklärung für die von Geburt an gegebenen Unterschiede bei den Menschen und ihren jeweiligen Lebensumständen, da man bereits mit dem in den Tiefen des eigenen Lebens angesammelten Karma geboren wird.

In zahlreichen seiner Schriften spricht Nichiren Daishônin davon, daß sein Buddhismus die Kraft hat, jegliches Karma zu ändern, so beispielsweise in seiner Abhandlung Über die Verlängerung des Lebens

Auch Karma läßt sich in zwei Kategorien, veränderbares und unveränderbares, einordnen. Aufrichtige Reue wird selbst unveränderbares Karma auslöschen, vom veränderbaren ganz zu schweigen.

Im seinen Schriften gebraucht Nichiren Daishônin den Ausdruck „unveränderbares Karma“ oft als Synonym für die Lebensdauer eines Menschen. Wenn man jedoch selbst unveränderbares Karma umwandeln und sein Leben über die karmisch bedingte Lebensspanne hinaus verlängern kann, so gilt dies erst recht für alles übrige Karma. Wie schrecklich auch immer das Karma sein mag, an dem ein Mensch aus vergangenen Leben trägt, kann er all dies gänzlich zum besseren wenden, vom Karma, das er im gegenwärtigen Leben schuf, gar nicht zu reden. Die Verlängerung des eigenen Lebens diente Nichiren Daishônin als anschauliches Beispiel, daß die buddhistische Ausübung selbst das am tiefsten verwurzelte Karma zu ändern vermag.

Nach diesem kleinen Exkurs über Karma sei der Vollständigkeit halber noch erwähnt, daß Buddha aus Sicht des brahmanischen Hinduismus nicht zuletzt auch deshalb als Ketzer betrachtet wurde, weil er mit seiner Haltung, unterschiedslos alle Menschen zu lehren, das indische Kastensystem zwangsläufig unterminierte. Das Wort Buddha ist sanskritischen Ursprungs und bedeutet „Erleuchteter“ oder „Erwachter“, d.h. einen zur Wahrheit erwachten Menschen. Dies impliziert, daß die Erleuchtung kein alleiniges Vorrecht eines einzelnen ist, sondern daß jeder, der zur Wahrheit erwacht, ebenfalls ein Buddha wird. Der Buddhismus anerkennt, daß es neben Shakyamuni weitere Buddhas gibt; Shakyamuni bedeutet „Weiser [des Stammes] der Shakyas“. Hierin zeigt sich die für den Buddhismus charakteristische Auffassung von der Gleichheit aller Menschen, daß nämlich die Wahrheit allen gleichermaßen offensteht. In diesem Sinne ist Buddhismus nicht nur die Lehre Buddhas, sondern auch diejenige Lehre, durch die alle Menschen Buddha werden können.

 

Hauptströmungen des Buddhismus

Nach Erlangung seiner Erleuchtung im Alter von ungefähr 30 Jahren predigte Buddha Shakyamuni für den Rest seines Lebens, wobei er während dieser etwa 50 Jahre eine Vielzahl verschiedener Lehren darlegte. Gleich anfangs erkannte er, daß die Kluft zwischen der Tiefe seiner Erleuchtung und der Auffassungsgabe seiner Schüler ein Problem war, dem er damit begegnete, daß er zunächst vergleichsweise einfache, dann schrittweise immer tiefgründigere Lehren darlegte. So läßt sich hier ein Prozeß des fortschreitenden Unterweisens seiner Zuhörer ausmachen, in dem ihr Verständnis allmählich reifte, so daß sie mehr und mehr vom Gehalt seiner Erleuchtung zu erfassen in der Lage waren. Den Höhepunkt schließlich bildete die Verkündung seiner tiefgründigsten Lehre, wie sie im Sutra der Dharmablume, das auch als Lotos-Sutra bezeichnet wird, niedergelegt ist. Diese Lehre predigte Shakyamuni während der letzten 8 Jahre seines Lebens. Durch sie waren seine Schüler schließlich imstande, die Buddhaschaft zu erlangen, d.h. selbst ein Buddha zu werden.

Die elementarste Klassifizierung der Lehren Buddhas liegt in ihrer Unterteilung in zwei Hauptrichtungen, die sich bereits einige hundert Jahre nach Shakyamunis Tod herausgebildet hatten. Zum einen handelt es sich um den als kleines oder individuelles Fahrzeug (sanskr. Hinayana) bekannten Theravada-Buddhismus, zum anderen um das universelle Fahrzeug (sanskr. Mahayana). Manche sprechen von einer weiteren, dritten Richtung, dem Diamantfahrzeug“ (sanskr. Vajrayana), doch ist diese tantrisch geprägte Strömung des Buddhismus trotz ihrer spezifischen Eigenheiten dem Mahayana zuzurechnen. Jedenfalls sah Nichiren Daishônin im esoterischen Vajrayana eine durch tantrische Einflüsse entstellte Form des Mahayana.

Zahlreiche Anhänger des individuellen Fahrzeugs findet man noch heute vor allem in Sri Lanka, Thailand, Myanmar (vormals Burma) and anderen Regionen Südostasiens. Diese Gläubigen hängen jenem Weg Shakyamunis an, wie er ihn zu Beginn seines Lehrens verkündetet hatte. In den Lehren des universellen Fahrzeugs hingegen, die sich nicht mit dem eigenen persönlichen Heil allein befassen, sondern großen Wert darauf legen, alle Lebewesen auf den Weg zur Buddhaschaft zu führen, werden die den Lehren des individuellen Fahrzeugs verhafteten und nach Selbsterrettung trachtenden Schüler des Buddhas nunmehr aufs äußerste getadelt. Von ihnen heißt es, daß sie aufgrund dieser ihrer Verhaftung und Selbstbezogenheit lediglich in die Grube des Nirwana fallen und generell zur Erlangung der Erleuchtung unfähig sind. Diese Schüler des individuellen Fahrzeugs werden im Mahayana-Buddhismus auch als Menschen der zwei Fahrzeuge“ bezeichnet – das sind die „Hörer der Stimme [des Buddhas] und die „teilerleuchteten Schüler“. In einem breiteren Sinne sind mit den „Hörern der Stimme“ diejenigen gemeint, die nach Sinn in ihrem Leben suchen. „Teilerleuchtete Schüler“ bezieht sich auf jene „selbstzufriedenen Praktizierenden“, die durch Versenkung bereits einiges vom Wesen des Lebens erfaßt haben, aber wegen ihrer Selbstbezogenheit eben nicht all seine Geheimnisse. Den Lehren oder „Fahrzeugen“, denen die beiden vorgenannten Personengruppen entsprechen, stellt der Mahayana-Buddhismus das „Fahrzeug des Bodhisattwa“ gegenüber. Im Mahayana wird ein Bodhisattwa als jemand verstanden, der nicht nur für sich allein nach Erleuchtung strebt, sondern auch zur Errettung anderer.

Doch auch bei diesen als vorläufiges Mahayana eingestuften Lehren handelt es sich immer noch um  „zweckdienliche Hilfsmittel“ des Buddhas, seine Schüler auf seine endgültige, tiefste Lehre vorzubereiten. Diese höchste Lehre sollte er erst nach etwa 42 Jahren des Lehrens im Sutra der Dharmablume offenbaren. Daher werden alle vor diesem Sutra verkündeten Lehren mit einem Baugerüst verglichen, das nach Fertigstellung des eigentlichen Gebäudes nutzlos und folglich abgenommen wird. Zu solchen provisorischen Lehren Buddhas zählen beispielsweise die vier edlen Wahrheiten, denen zufolge alles Dasein Leiden ist, das man dadurch überwinden kann, daß man ein Leben auf der Grundlage des achtfachen Pfades führt. Mit seinem Übergehen zu höheren Lehren stellt Buddha Shakyamuni die Ausübung der sechs paramitas (Vervollkommnungen) in den Mittelpunkt. Eine andere bekannte Doktrin dieser provisorischen Lehren ist die der „Leere“ oder Nichtsubstantialität aller Phänomene.

Obwohl dem individuellen Fahrzeug überlegen, repräsentieren also auch die Lehren des provisorischen Mahayana noch immer nicht die Weisheit des Buddhas in ihrer ganzen Umfänglichkeit und makellosen Vollendetheit. Etliche dem Mahayana zuzurechnende Schulen, wir wir sie noch heute vor allem in Tibet, Korea, China und Japan antreffen, haben in solchen provisorischen Lehren ihren historischen Ursprung. Im Westen sind die bekanntesten Vertreter der Tibetische und der Zen-Buddhismus. Da öfter die Frage gestellt wird, wie diese Richtungen aus Sicht des Buddhismus Nichiren Daishônins zu bewerten sind, wollen wir schon hier einen kurzen Blick auf diese Schulen werfen.

Der durch taoistisches Gedankengut beeinflußte Zen-Buddhismus wurde durch die ausgezeichneten Übersetzungen Daisetz Suzukis und anderer bei uns bekannt. Die Beatnik-Generation in den USA und die populären Kung-Fu-Fernsehserien dürften ebenso zum vergleichsweise hohen Bekanntheitsgrad des Zen im Westen beigetragen haben. Der Zen-Buddhismus nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als daß er das geschriebene Wort für praktisch bedeutungslos erklärt. Er geht davon aus, daß die wahre Natur des Geistes durch Meditation und Techniken wie Frage und Antwort, Rätsel und Parabeln ergründet werden kann. Nichiren Daishônin verurteilte den Zen scharf als das „Wirken des Großen Dämons des sechsten Himmels“, da dieser mit seiner Herabsetzung der Schriften im Ergebnis die Lehre Buddhas selbst zerstört und niemand durch Zen-Meditation die Erleuchtung erlangen würde. Zwar ist das Sutra der Dharmablume, auf dessen Inhalt wir gleich näher eingehen, im Zen durchaus bekannt, aber es wird hierwie die Sutras schlechthinals bloßer Finger, der zum Mond zeigt degradiert, während Zen der Mond selbst sei. Zen nimmt für sich in Anspruch, historisch auf einer besonderen Überlieferung außerhalb der Schriften zu beruhen, an deren Beginn eine Betrauung des Schülers Mahakashyapa durch Buddha Shakyamuni stehe: Als der Buddha eine Blume in seinen Fingern drehte, soll allein der lächelnde Mahakashyapa (als erster Patriarch des Zen) diese Symbolik verstanden haben, was belege, daß die Überlieferung abseits von Wort und Schrift erfolgt. Doch warum sollte der ehrwürdige Mahakashyapa nach dem Ableben Shakyamunis dann das erste buddhistische Konzil zur Zusammenstellung der Lehren leiten, wenn die Sutras ohnehin ad acta zu legen sind? Darüber hinaus könnte man weiter fragen, wie Zen für sich beanspruchen kann, Mahayana-Buddhismus zu sein, wenn doch Mahakashyapa für zwei Jahrzehnte nach dem Ableben Shakyamunis die Lehren des individuellen Fahrzeugs (Hinayana) propagierte? Auch erweckt die im Zen praktizierte Meditation zur individuellen Erlangung der Erleuchtung (Satori), um durch Ausschaltung des bewußten Denkens eine Stille oder Leere zu erreichen, eher Assoziationen zum Hinayana- denn zum Mahayana-Buddhismus.

Der Tibetische Buddhismus wiederum war in seiner heutigen Form Nichiren Daishônin nicht bekannt. (Der erste Dalai Lama lebte von 1391–1475.) Doch gab es zu Nichirens Zeit in Japan schon die esoterische Shingon-Schule, die mit ihrer tantrisch geprägten Ausübung von „Mudras und Mantras“ mancherlei Ähnlichkeit zur heutigen Religion in Tibet aufweist. Insofern ist das Urteil des Daishônin über Shingon, daß diese Schule den Ruin des Landes mit sich bringt, interessant. Der esoterische japanische Buddhismus gründet sich auf provisorische Lehren wie das Mahavairocana- und das Vajrashekhara-Sutra (Sutra der Diamantkrone). Auch im Buddhismus von Tibet spielt das Sutra der Dharmablume praktisch keine Rolle. Hier hat sich ein eigenwilliges Gemisch aus vorläufigem, esoterischem Mahayana und Elementen des Hinayana herausgebildet. Die durch üppiges zeremonielles Beiwerk geprägte Ausübung umfaßt tantrische Praktiken hinduistischen Ursprungs, Yoga sowie Rituale des Bön des tibetischen Schamanentums. Für diese Vermischung verschiedener Lehren und Praktiken ist die Bezeichnung Lamaismuszutreffender als der Begriff „Buddhismus“, zumal hier die drei Schätze des Buddhismus – das Dharma, der Buddha und der Orden [der Mönche] um einen vierten Schatz erweitert wurden. Der Schatz des Lama (Guru) steht in höherem Ansehen als die originären drei Schätze, da ohne ihn die Menschen die drei Schätze nicht achten würden. Nicht zu Unrecht wird das hierokratische Tibet mit dem Dalai Lama als religiös-politischem Oberhaupt dafür kritisiert, daß hier eine Religion für politische Ziele und zur Legitimierung sozialer Macht instrumentalisiert wird. In diesem Zusammenhang steht auch jene Lehre in der Kritik, nach der sich der Dalai Lama, der als lebender Buddha angesehen wird, immer wieder „reinkarnieren“ soll. Es ist erstaunlich, wie wenig diese Verflechtung von Politik und Religion dem allgemein positiven Image des Buddhismus bislang geschadet hat! Der Dalai Lama wird von seinen Anhängern als Reinkarnation des Bodhisattwa Kannon verehrt, und der nach ihm ranghöchste Lama, der Panchen Lama, als Reinkarnation Buddha Amidas. Die gerade in politischen (auch konservativen) Kreisen öfter anzutreffende Affinität zum Dalai Lama scheint jedenfalls nicht allein in dessen Charisma“ seine Grundlage zu haben.

 

Das Sutra der Dharmablume (Lotos-Sutra)

Wir wollen uns nun dem Sutra der Dharmablume zuwenden, das Buddha Shakyamuni in den letzten 8 Jahren seines Lebens verkündete. Anders als noch in den provisorischen Sutras spricht er hier nicht mehr von solchen Buddhas wie dem anfangs erwähnten Amida der Jôdo-Schule oder von Dainichi (sanskr. Mahavairocana) der Shingon-Schule, denn in Wirklichkeit handelt es sich bei diesen provisorischen Buddhas um Emanationen Shakyamunis selbst. Damit tritt nun auch der vorläufige und vorbereitende Charakter solcher Prinzipien wie das der vier edlen Wahrheiten, der Ausübung der sechs paramitas, der Leere aller Dinge und anderer zutage. Das Sutra der Dharmablume wird übrigens recht ausführlich im Buch Grundzüge des Buddhismus unter der Bezeichnung Lotos-Sutra erörtert.

(... in Arbeit ...)

 

Nam-myôhô-renge-kyô und das Objekt der Verehrung

Die von Nichiren Daishônin gelehrte Ausübung besteht in der Anrufung von Nam-myôhô-renge-kyô. Um dies näher zu erläutern, werden wir uns auf seine eigenen Ausführungen beziehen. Die Sammlung der vom Daishônin selbst verfaßten Schriften wird als die Goshô bezeichnet und bildet für uns die Grundlage des Studiums seines Buddhismus. Bei diesen Texten, aus denen bereits zitiert wurde, handelt es sich um lehrmäßige Abhandlungen, aufgezeichnete mündliche Lehren, Briefe an seine mönchischen Schüler und Laienanhänger, Briefe der Remonstration mit der japanischen Regierung und Diagramme. Über 700 dieser Schriften Kopien und Fragmente eingeschlossen sind bis zum heutigen Tag überliefert. Davon ist etwa ein Drittel in Nichiren Daishônins eigener Handschrift erhalten. Andere wurden in Gestalt alter Manuskriptkopien überliefert, die zeitgenössische Schüler oder spätere Anhänger aufgezeichnet haben.

Nam-myôhô-renge-kyô ist das grundlegende Rezitativ der Nichiren Shôshû als Hauptausübung, zu der als unterstützender Ausübung das Rezitieren der beiden Schlüsselkapitel des Sutra der Dharmablume hinzukommt. Anhänger der Nichiren Shôhû, Mönche wie Laien, verrichten diese Ausübung prinzipiell zweimal täglich, wobei sie dies nach Möglichkeit vor dem Objekt der Verehrung tun. Dieses Objekt der Verehrung nennt man den Gohonzon, in den Nichiren Daishônin sein erleuchtetes Leben als zeremonielle Kalligraphie mittels chinesischer Schriftzeichen plus zweier sanskritischer Silben aus dem indischen Siddham-Alphabet eingeschrieben hat. Der Gohonzon ist von rechteckiger Form und hochkant ausgerichtet. Das, was auf ihm geschrieben steht, entspricht in seiner graphischen Anordnung einem Mandala. Es gibt ihn grundlegend in zwei Ausführungen. Die eine ist aus schwarzem Holz, in das die goldfarbenen Schriftzeichen eingeschnitzt sind. Die andere Variante ist als traditionelles japanisches Kakemono ausgeführt, wobei es sich um einen mit Tusche beschriebenen Papierbogen handelt, der am oberen und unteren Ende durch einen Rundstab gefaßt ist. Es ist in der Regel in solcher Gohonzon aus Papier, vor dem die Laiengläubigen bei sich daheim praktizieren. Im Zentrum des Gohonzon steht, senkrecht von oben nach unten geschrieben, der Schriftzug Nam Myôhô Renge Kyô Nichiren. Zu seinen Lebzeiten hat Nichiren Daishônin einzelne Gohonzons für Menschen eingeschrieben, die seine Lehre vollkommen angenommen hatten und sie ernsthaft praktizierten. In dieser Tradition wird der Gohonzon bis auf den heutigen Tag an individuelle Gläubige verliehen, gleichsam als Siegel ihrer Erleuchtung; jedenfalls sollte es so sein. 

Zuweilen geht man außerhalb der Nichiren Shôshû irrtümlich davon aus, daß es sich beim Rezitieren von Nam-myôhô-renge-kyô um eine Art Meditation“ handelt, bei der ein Mantra“ praktiziert wird. Dem ist jedoch nicht so. Im Glossar erläutert Martin Bradley den Begriff Mantra (japanisch: Shingon) wie folgt:

Das Wort findet sich bereits im Oxford Dictionary. Im großen und ganzen handelt es sich bei Mantras um silbische Formeln oder abgekürzte sanskritische Wörter, mit deren Hilfe man sich üblicherweise den Gehalt einer Lehre ins Bewußtsein zu rufen sucht. Das Wort Mantra ist mit dem sanskritischen man“ verwandt, welches „denken“, „ins Bewußtsein rufen“ oder „mutmaßen“ bedeutet. In Bezug auf die Lehre Nichiren Daishônins ist Nam-myôhô-renge-kyô kein Mantra; es handelt sich um das Thema und den Titel, der aus sieben Ideogrammen besteht, von denen jedes einzelne eine tiefgündige Bedeutung hat.

Was bedeutet Nam-myôhô-renge-kyô? Die Konnotationen jedes einzelnen Ideogramms dieses einen essentiellen Satzes sind vielfältig, was beim Versuch einer Bedeutungserklärung im Auge zu behalten ist. Nam (namas) von Nam myôhô renge kyô ist sanskritischen Ursprungs und bedeutet u.a. sein Leben zu widmen. Bei Myôhô renge kyô handelt es sich um klassisches Chinesisch, und zwar um die chinesische Übersetzung des sanskritischen Titels des Sutra der Dharmablume, welcher Saddharma Pundarika Sutram lautet. Sat ist Allheit (myô), Dharma heißt im Japanischen , Pundarika ist die Lotosblume (renge), und Sutram (kyô) bedeutet Sutra. Wollte man Nam-myôhô-renge-kyô zu übersetzen versuchen, liefe dies auf etwas hinaus wie Weihung und Gründung des eigenen Lebens auf das Sutra der Lotosblume der Allheit des Dharma.

In seiner Schrift Der eine essentielle Satz sagt Nichiren Daishônin über Nam-myôhô-renge-kyô, das der Titel (Japanisch: Daimoku) des Sutra der Dharmablume ist:

Die beiden Ideogramme, aus denen das Wort Japanbesteht, schließen alles ein, was die 66 Provinzen des Landes ausmacht: die Menschen, die Tiere, die Reisfelder und andere Felder, Personen hohen und niederen Ranges, den Adel und das gemeine Volk, die sieben Arten von Schätzen and all die übrigen kostbaren Juwelen. Gleichsam ist im Titel, dem Daimoku von Nam-myôhô-renge-kyô, das gesamte Sutra mit all seinen 8 Faszikeln, 28 Kapiteln und 69.384 Ideogrammen enthalten, ohne daß es ihm an einem einzigen Ideogramm fehlen würde... Alles hat seinen essentiellen Kern, und das Herz des Sutra der Dharmablume ist sein Titel oder das Daimoku von Nam-myôhô-renge-kyô. Indem Sie dieses morgens und abends rezitieren, lesen sie in der Tat das gesamte Sutra der Dharmablume auf korrekte Weise. Das Daimoku zweimal zu rezitieren ist das gleiche, wie das Sutra zweimal zu lesen, einhundert Daimoku kommen dem hundertmaligen Lesen des Sutra gleich, und eintausend Daimoku einem tausendmaligen Lesen. Indem Sie unablässig das Daimoku rezitieren, lesen Sie fortgesetzt das Sutra der Dharmablume.

Und in seiner Antwort an Herrn Shijô Kingo mit dem Titel Störende Sorgen sind untrennbar von Erleuchtung schreibt er:

In der Tat ist für jene Männer und Frauen, die Nam-myôhô-renge-kyô rezitieren, selbst bei ihrer sexuellen Vereinigung, all das, was in ihrem Geist abläuft, auf keine Weise getrennt von ihrer innewohnenden Erleuchtung, und ihr Zyklus von Leben und Tod ist ungetrennt vom endgültig unveränderlichen Nichtsein des Nirwana.

In diesem Abschnitt dürfte „rezitieren nicht nur im buchstäblichen Sinn des Wortes gemeint sein. Der Daishônin weist hier auf die entscheidende Bedeutung einer allumfänglichen Besinnung auf Nam-myôhô-renge-kyô zur Erlangung der Erleuchtung hin. Das verbale Rezitieren von Nam-myôhô-renge-kyô bildet die Basis einer solchen ganzheitlichen Besinnung, doch handelt es sich bei dieser Ausübung nicht um Meditation“ (Samadhi) im üblichen Sinne, wiewohl diese Praxis auch einen meditativen Aspekt hat. Martin sagt hierzu in seinem Glossar:

Von denjenigen Personen einmal abgesehen, denen es gelingt, ihr Denken vollkommen in dem einen Objekt der Meditation aufgehen zu lassen, wobei es sich um das vollendete Samadhi handelt, ist derlei mentale Akrobatik in der Lehre der Nichiren Shôshû von geringer bis ganz ohne Bedeutung. Hinsichtlich des ununterbrochenen Rotierens des Räderwerks des Geistes kann man kaum etwas tun.

Beim Rezitieren von Nam-myôhô-renge-kyô handelt es sich also keineswegs um eine rein meditative Kontemplation mit dem letztlichen Ziel, die beständig in unserem Kopf ablaufenden mentalen Vorgänge zum Stillstand zu bringen, was ohnehin nur ganz wenigen Menschen gelingt. Insofern unterscheidet sich die Ausübung der Nichiren Shôshû nicht nur von der im Zen ausgeübten Meditationspraxis, sondern auch von anderen Praktiken, mit denen man versucht, den Lärm“ im Geist durch das Rezitieren eines Mantra zu „übertönen“. Bekannte Beispiele für letzteren Ansatz sind z.B. der Ruf „Hare Krishna“ oder der mantrische Gebrauch der Klangsilbe „Om. Interessant in diesem Zusammenhang ist Nichiren Daishônins Kritik an der tantrisch geprägten Ausübung von „Mudras und Mantras“ der esoterischen Shingon-Schule, die wie schon gesagt in gewisser Weise der heutigen Religion in Tibet ähnelt. In seinem Brief an den religiösen Shomitsu schreibt er:

Eine Mudra ist eine mit der Hand ausgeführte Ausdrucksbewegung. Aber wenn die Hand nicht zum Buddha wird, wie können mit der Hand ausgeführte Mudras einen zur Buddhaschaft führen? Ein Mantra ist eine mit dem Mund ausgeführte Bewegung. Aber wenn der Mund nicht zum Buddha wird, wie können mit dem Mund ausgeführte Mantras einen zur Buddhaschaft führen? Wenn die Menschen der zwei Fahrzeuge nicht dem Sutra der Dharmablume begegnen, werden sie, selbst wenn sie die Mudras und Mantras der zwölfhundert und weiterer Geehrter für die Dauer unzähliger Kalpas verrichten, niemals die Buddhaschaft imKörper, Mund oder Geist erlangen.

Die Tiefgründigkeit respektive Seichtheit einer Lehre manifestiert sich auch in der Form ihrer Ausübung. In diesem Lichte erscheint das vom Daishônin kritisierte Rezitieren von [magischen] Mantras zwecks Erlangung der Erleuchtung nicht effektiver als das Gackern eines Huhns, wie es jemand einmal pointiert formulierte. Auch wertete er die von der Shingon-Schule benutzen Mandalas als Objekte der Verehrung als vollkommen nutzlos. Er erblickte in ihnen sogar einen „Dämon“, der letztlich zum Ruin des Praktizierenden führt. Allein das vom ihm errichtete Objekt der Verehrung, dessen „Blaupause“ er in der höchsten, vollkommenen buddhistischen Lehre fand, macht es möglich, daß kraft der auch den Pflanzen innewohnenden Buddhanatur ein physisches Mandala aus Holz (oder Papier) als Objekt der Verehrung fungieren kann. Ohne eine solches lehrmäßiges Fundament wäre ein physisches Mandala in der Tat nicht mehr als ein „Stück Papier“ bzw. Holz, das uns vielleicht auf emotionaler Ebene berührt, ähnlich einem ausdrucksvollen Gemälde. Doch könnte es dann kein Objekt der Verehrung verkörpern, welches einem lebenden Buddha gleichkommt.

Eine Erläuterung von Nam-myôhô-renge-kyô kommt dem sprichwörtlichen Abtragen eines Gletschers mit dem Teelöffel gleich. Weil das Sutra der Dharmablume die Krönung aller Sutras ist und alle Lehren in sich vereinigt, kann man sagen, daß Nam-myôhô-renge-kyô zu erklären letztlich darauf hinausläuft, alle buddhistischen Lehren zu erklären.

(... in Arbeit ...)

 

[i] What is Religion?, A 1985 Lecture by Reverend Yosai Yamada, Chicago Myogyoji Temple

[ii] Der Präsident der Soka Gakkai Internationale Daisaku Ikeda gibt häufig derartige Führungen an seine Mitgliedschaft, so etwa in seiner Daily Guidance for December 19:

When you fuse your life and your activities with the most fundamental rhythm inherent in the life of the vast universe, no matter how small your existence may seem, you will be able to experience a dynamic pulse of boundless life-force and tap profound and immeasurable wisdom. This is known as kyoichi myogo, or fusion of reality and one's wisdom.