Vorwort zur deutschen Übersetzung  

M.O.  Juli 2002 – Oktober 2005

Beim Nichiren-Daishônin-Lesebuch handelt es sich um Fragmente deutscher Versionen der von Martin Bradley aus dem Japanischen ins Englische (neu)übersetzten Texte unserer Schule Nichiren Shôshû – vorrangig aus Martins Buch The Buddha Writings of Nichiren Daishônin. Für Kritik, Anmerkungen und Fragen findet der Leser auf jedem Seitenkopf des Lesebuches eine Korrespondenz-Taste. Alle Zuschriften sind willkommen und werden beantwortet. Fragen, die ich nicht hinreichend beantworten kann, leite ich an Martin weiter.

Martins Quellen bilden die originaljapanischen Texte und Kommentare der Gelehrten unserer Schule sowie sein Austausch mit ihrem Klerus. Obschon in der Regel zugestanden wird, daß Martin ein begnadeter Übersetzer ist, äußert sich zuweilen Kritik an seinen Arbeiten, daß seine Übersetzungen „zu schwierig zu verstehen“ oder „schwer lesbar“ seien. Selbst die, die von seinen Arbeiten äußerst angetan sind, räumen im allgemeinen ein, daß die Lektüre seiner Übersetzungen streckenweise „harter Tobak“ ist. Das Problem liegt aber weniger bei Martin als den Schriften Nichiren Daishônins selbst. Besonders die an buddhistische, in tiefgründiger Doktrin bewanderte Gelehrte gerichteten Abhandlungen sind äußerst schwierig zu verstehen. Martins Übersetzungen derartiger Texte sind naturgemäß ebenso schwierig und komplex an Gehalt wie die Originaltexte, da die Zielrichtung seiner Neuübersetzungen die ist, daß nichts „vereinfacht“ oder verwässert wird. Während die uns in der Vergangenheit zur Verfügung stehenden Texte oft durch einen Mangel an wünschenswerter Qualifikation ihrer Übersetzer oder durch eine „evangelistische“, verzerrende Terminologie geprägt waren, sind Martins Übersetzungen frei von solchen fragwürdigen, den Buddhismus deformierenden Wendungen. Sein leicht antiquiertes, viktorianisches Englisch, seine zuweilen als „langatmig“ empfundenen Paraphrasierungen – so lautet beispielweise der Titel von Nichiren Daishônins Abhandlung Sô Kan Mon Shô in deutscher Übersetzung Ein Vergleich der Ebenen der verschiedenen Doktrinen all der Buddhas der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinsichtlich dessen, welche spezifischen Lehren zu etablieren oder zu verwerfen sind –, bei all diesen mit Bedacht von ihm gewählten Aspekten seiner Arbeit sollten wir uns bewußt sein, daß es ihm darum geht, daß auch für uns, die wir weder des Japanischen noch des Chinesischen mächtig sind, der ganze Gehalt der Originalschriften in ihrer Grundbotschaft erschlossen wird. Bei seinen Übersetzungen der weniger schwierigen, an einfache Menschen gerichteten Briefe wie z.B. des mit Störende Sorgen sind untrennbar von Erleuchtung betiteltem wahrt Martin selbstverständlich auch den Charakter solcher Schriften Nichiren Daishônins. Wie er selbst betont, kann der Buddhismus nur durch eine begleitende Ausübung verstanden werden, und in seiner Übersetzung der These über das in dem einen Augenblick des Gedankens enthaltene gesamte Dasein heißt es, daß selbst der Analphabet, der nicht ein einziges Schriftzeichen zu lesen in der Lage ist, die verdienstvollen Tugenden, die sich als Resultat der buddhistischen Ausübung einstellen, an sich erfährt.

Nichtsdestotrotz läuft es in jeder Hinsicht dem ureigenen Geist des Buddhismus zuwider, den Menschen unseres westlichen Kulturkreises etwas von seiner Tiefe vorzuenthalten, indem man den enormen Herausforderungen, die sich beim Übersetzen aus den orientalischen Sprachen stellen, mit allerlei fragwürdigen Simplifizierungen begegnet. Martin betont, daß es nur einen Homo sapiens sapiens gibt und alle menschlichen Sprachen über die gleichen Ausdrucksmöglichkeiten verfügen. Er hat darauf hingewiesen, daß „seriöse Übersetzungen ausnahmslos aus der anderen Sprache in die idiomatischen Wendungen der Muttersprache des Übersetzers erfolgen“ und daß Menschen mit Englisch als Muttersprache ein stilistisch und grammatikalisch besseres Englisch schreiben aus dem einfachen Grund, daß wir das Stadium des ‚Humpty Dumpty, ‚Mary Mary und der Sonetten William Shakespeares hinter uns gelassen haben.“ Für ihn beruht die Qualität von Übersetzungen auf drei Grundlagen: „Erstens muß man ein umfassendes Wissen der Thematik besitzen, zweitens muß man über einen ausgezeichneten Einblick und ein ebensolches Verständnis der Sprache, aus der man übersetzt, verfügen, und drittens über herausragende Fähigkeiten, in der eigenen ersten Sprache zu denken und erforderlichenfalls kreativ zu sein.“

Insbesondere zum ersten Punkt führt Martin näher aus: „Seit die Kirche entschieden hatte, Pater Antonio Pereira 1481 in irgendeinem chinesischen Hafen an Land zu setzen, um ihn für die kommenden 10 Jahre Sprache, Kultur und Gebräuche Chinas studieren zu lassen, hat man im Westen am Studium der fernöstlichen Sprachen und Zivilisationen festgehalten. Die treibende Kraft war leider, ‚die Heidnischen zu bekehren oder aus wirtschaftlichen Interessen Kolonien zu gründen. Diese Haltung tat das ihre, eine Situation herbeizuführen, daß es sich bei den meisten der vom 17. Jahrhundert bis in die späten 1920er verfaßten chinesischen und japanischen Wörterbücher um die Werke von Kirchenorganisationen handelte. Von daher war die Mehrheit der am chinesischen oder japanischen Buddhismus interessierten Gelehrten gezwungen, sich auf diese christlich orientierte Lexikographie zu stützen. Genau hier ist es, wo uns nichtssagende Terminologie wie ‚Mystisches Gesetz und ‚Später Tag des Gesetzes begegnet!“ Als Beispiele ausgezeichneter Übersetzungen nennt Martin zwei Werke, bei denen es sich zwar um provisorische Lehren Buddhas handelt, die aber unter linguistischen Aspekten allemal unser Interesse verdienen: „Trotz der Konfusion unter den Orientalisten und Gelehrten hinsichtlich unseres Verständnisses von Buddhas Lehren im Westen waren es die 1930er Jahre, in denen Evans-Wentz und Lama Kazidawa Samdup ihr Tibetisches Totenbuch veröffentlichten und Daisetz Suzuki seine umfassende Arbeit über das Lankavatara-Sutra anfertigte. Was so außerordentlich bedeutsam daran war, lag in dem Umstand, daß diese Autoren Übersetzungen von innen her anfertigten.“

Was die vorliegende Site betrifft, sei darauf hingewiesen, daß sie keinen Buddhismus lehren kann, sondern eine Quelle der Lehren Buddhas bildet und nicht getrennt vom Klerus der Nichiren Shôshû existieren kann, ohne den es diesen Buddhismus nicht gäbe. Sämtliche Fragen, die die Bedeutung und Intention der Schriften Nichiren Daishônins betreffen, sollten daher an die Nichiren Shôshû gerichtet werden.

Mein persönlicher Dank gilt Brian Rahilly, ohne dessen Ermutigung und Unterstützung ich nicht begonnen hätte, mit ein paar deutschen Übersetzungen zumindest einen Anfang zu machen, und ganz besonders Martin Bradley, der stets geduldig all meine Fragen zu den Schriften der Nichiren Shôshû beantwortete und mir und einigen meiner Landsleute verholfen hat, unser Verständnis der Lehren Nichiren Daishônins ein weiteres Stück zu vertiefen.